Zwischen Regelkonformität und Pragmatismus

Interview mit Holger Weßner – QM + QS-Verantwortlicher Naturkost Übelhör – 23. Januar 2024

Naturkost Übelhör, 1987 gegründet, ist ein Pionier im deutschen Bio-B2B-Markt. Die internationalen Lieferketten kennt das Unternehmen aus dem FF. Wie sich die verschärften Anforderungen auf das Lieferantenmanagement auswirken und welche Rolle dabei We Care spielt, erläutert der QM + QS-Verantwortliche Holger Weßner im Gespräch.

Herr Weßner, Naturkost Übelhör legt aus intrinsischer Motivation großen Wert auf faire Lieferantenbeziehungen. Gleichzeitig ist Ihr Unternehmen SMETA zertifiziert, auch FairTrade, UTZ, GFSI, um nur einige Ihrer Siegel zu nennen. Weshalb jetzt auch noch We Care?

 

Holger Weßner: Unser Unternehmen pflegt zu rund 200 Lieferanten meist langjährige Beziehungen. Dabei müssen wir immer wieder abwägen, welchen Standards wir uns verpflichten. Wir orientieren uns natürlich an gesetzlichen Vorgaben, an internationalen Leitlinien und vor allem an unserem eigenen anspruchsvollen Verhaltenskodex. Unsere Lieferanten wissen um unseren verantwortungsbewussten und fairen Umgang mit wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Themen. Die positiven Effekte dieser Haltung erfahren die Menschen in den Ursprungsländern unmittelbar vor Ort. Vor diesem Hintergrund bräuchten wir sicherlich keine weiteren Standards. Im Zuge der fortschreitenden Reglementierung jedoch erwarten immer mehr unserer Kunden Nachweise von unabhängigen Dritten, dass wir nachhaltig arbeiten. Diesen Anspruch erfüllt nach unserer Überzeugung der We-Care-Standard am umfassendsten.

Können Sie das konkretisieren?

Holger Weßner: An We Care hat uns die Bandbreite und Tiefe der nachhaltigen Themen überzeugt, insbesondere beim Lieferkettenmanagement. Darüber hinaus betrachtet We Care aber auch die Bereiche Mitarbeiter sowie das Umwelt- und Energiemanagement. Gerade in den beiden letztgenannten Bereichen schaffen wir durch We Care die Grundlage zur Verbesserung unserer Performance. Zum Beispiel messen und analysieren wir jetzt erstmals systematisch unsere Energiesituation. Dadurch wissen wir jetzt, dass wir bereits 60 Prozent unseres Strombedarfs mit eigener Solarenergie decken. Das erlaubt uns Ziele und Maßnahmen zu formulieren, wie wir diese Quote erhöhen können.

An welche Regulierung denken Sie?

Holger Weßner: Wir fordern gemeinsam mit vielen weiteren Organisationen in der Initiative Faire Preise in der Lieferkette ein Verbot des Einkaufs unterhalb der Produktionskosten. Zudem ist eine unabhängige Ombuds- und Preisbeobachtungsstelle notwendig. Die aktuelle Evaluierung des Agrarorganisationen- und Lieferkettengesetztes (AgrarOLkG) bietet eine wichtige Gelegenheit, diese neuen Regulierungen auf den Weg zu bringen.Auch die europäische Lieferkettenrichtlinie muss sicherstellen, dass Unternehmen durch eine Anpassung ihrer Einkaufspraktiken für existenzsichernde Einkommen und Löhne sorgen.

We Care erwartet eine genaue Dokumentation und Prozessbeschreibung. Was hat sich durch die Zertifizierung bei Naturkost Übelhör in diesem Bereich verändert?

Holger Weßner: Den Nutzen einer genauen Beschreibung von Abläufen und ihrer Dokumentation kann ich aus meiner langjährigen Arbeit im Qualitätsmanagement nur bestätigen. Naturkost Übelhör praktiziert seit vielen Jahren eine Kultur der klaren Prozesse und einer sorgfältigen Dokumentation. Vor diesem Hintergrund mussten wir nur sehr wenige Dinge an We Care anpassen.

Wie gehen Sie mit dem Spannungsbogen zwischen Reglementierung, Freiwilligkeit und politischen Rahmenbedingungen um?

Holger Weßner: Die Risikoanalyse ist bei unserer hohen Zahl von Lieferanten sehr aufwändig. Und ja, wir müssen permanent schauen, dass wir einerseits die externen und internen Ansprüche erfüllen, und gleichzeitig den Blick für die Realitäten in den einzelnen Märkten nicht verlieren, dazu zähle ich auch politische Situationen. Wir müssen auch akzeptieren, dass manche Kultur ganz anders als bei uns gelebt werden, und deshalb manche Lieferanten nicht verstehen, warum wir bestimmte Dinge von ihnen erwarten. Andere haben schlicht kein Verständnis, wenn zum Beispiel die Anforderungen der EU-Bio-Verordnung immer weiter verschärft werden. Die Folge kann dann sein, dass manche Lieferanten lieber in den US-amerikanischen Markt exportieren als in das überreglementierte Europa. Bei allen Diskrepanzen: Unser großer Vorteil ist, dass wir die meisten Fragen durch Besuche vor Ort klären können. Unser Unternehmen hat von Beginn an großen Wert auf den persönlichen Kontakt mit den Lieferanten und die Unterstützung vor Ort gelegt. Diese Kultur des gegenseitigen Vertrauens pflegen wir durch regelmäßige Besuche in den Ursprungsländern konsequent.

In diesem Zusammenhang: Wo sehen Sie Veränderungsbedarf beim We-Care-Standard?

Holger Weßner: Naturkost Übelhör ist erst seit wenigen Monaten We-Care-zertifiziert, eine fundierte Bewertung möchte ich deshalb erst zu einem späteren Zeitpunkt vornehmen. Dennoch plädiere ich dafür, dass sich We Care stärker gegenüber konventionellen Lebensmittelunternehmen öffnet und den aktuell absoluten Anspruch in puncto Bio flexibler formuliert. Dies würde meines Erachtens den beteiligten Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil bringen, gleichzeitig die dringend benötigte Bekanntheit von We Care in der Branche erhöhen und damit letztlich die Bio-Entwicklung insgesamt unterstützen.

Das Gespräch führte Volker Laengenfelder
laengenfelder.de

Der Dipl.-Ing. für Lebensmitteltechnologie Holger Weßner (53) ist Teamleiter Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung beim Bio-Lebensmittelverarbeiter und -händler Naturkost Übelhör. Das im württembergischen Allgäu ansässige Unternehmen beschäftigt rund 65 Mitarbeiter und vertreibt über 270 Produkte.