Angemessene Existenz
Mindestlohn, angemessene oder existenzsichernde Löhne und Einkommen. Durch das Lieferkettengesetz ist Bewegung in die Frage gekommen, wie Entlohnung in der Lieferkette definiert werden sollte. Ein Überblick.
In Deutschland gilt erst seit 2015 ein gesetzlicher Mindestlohn. Vor allem für gering qualifizierte Arbeitende bedeutet dieses vergleichsweise junge Gesetz einen Meilenstein, wenn auch kein Garant für eine sichere Lebensgrundlage. Die große Masse der Beschäftigten dagegen ist schon seit Gründung der Bundesrepublik über die Tarifgesetzgebung grundsätzlich gut abgesichert. Anders sieht es in vielen Ländern des Globalen Südens, dem Ursprung vieler Bio-Rohwaren, aus. Ein soziales Netz wie in Deutschland gibt es kaum, dem Mindestlohn kommt dort somit eine hohe Bedeutung zu. Zwar verfügen nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO über 100 Nationen weltweit über einen Mindestlohn, doch Mindestlohn heißt eben nicht Existenzsicherheit (die ILO hält bis heute an ihrem seit 1972 gültigen Übereinkommen zum Mindestlohn-Grundsatz fest). Jeder Staat entscheidet individuell über die Höhe des Mindestlohns. Ob damit die allgemeinen Lebenshaltungskosten getragen werden können, steht auf einem anderen Papier. Auch können gerade in Staaten mit hohem Korruptionsniveau Mindestlohnzahlungen leicht unterlaufen werden.
Wie geht die Bio-Branche mit dem Thema um? Auf das Thema Bezahlung angesprochen, verweisen viele Akteure nach wie vor auf das Stichwort Fairness, einem der Grundprinzipien des ökologischen Landbaus. Faire Bezahlung für Beschäftigte in den Ursprungsländern bedeutete jahrelang die Orientierung am lokalen Mindestlohn. Dieser Ansatz funktioniert teilweise, teilweise eben auch nicht. Fairtrade Deutschland unterstreicht, dass der Fairtrade-Mindestpreis noch kein existenzsicherndes Einkommen garantiere. Spätestens seit der breit geführten Diskussion um das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) zeigt sich, dass staatliche Mindestlöhne und -preise nicht zwingend ein existenzsicherndes Auskommen bedeuten. Was aber heißt existenzsichernd? Es gibt eine Vielzahl an Definitionen. Die Living Wage Coalition, ein unabhängiges internationalen Netzwerk von Organisationen rund um Sozialstandards, beschreibt eine existenzsichernde Vergütung dann als gegeben, wenn ein „angemessener Lebensstandard für die arbeitende Person und deren Angehörige gewährleistet ist“. Dazu gehören Nahrung, Wasser, Unterkunft, Bildung, medizinische Versorgung, Transport, Bekleidung und andere Grundbedürfnisse, einschließlich Vorkehrungen für unerwartete Ereignisse. Diesem Ansatz liegt ein Modell der Soziologen Richard und Martha Anker zugrunde, das existenzsichernde Löhne und Einkommen individuell nach den lokalen Gegebenheiten berechnet, die Menschen und deren Organisationen vor Ort einbezieht und rohstoffspezifische Berechnungen ermöglicht. Das Anker Research Institute zählt zu den Gründern der Living Wage Coalition. In Studien zu 40 Ländern hat die Living Wage Coalition festgestellt, dass die dortigen gesetzlich fixierten Mindestlöhne in aller Regel kein existenzsicherndes Auskommen ermöglichen.
Wie geht der Gesetzgeber auf diese Perspektive der Diskussion ein? Das LkSG erwartet die Zahlung „angemessener Löhne“. Nach Interpretation des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, es hat das LkSG eingebracht, genüge der lokale gesetzliche Mindestlohn nur in der Regel und sei nicht in jedem Fall angemessen. Der angemessene Lohn, so das Ministerium, liege aber auch nicht zwingend über dem gesetzlichen Mindestlohn. Das Schlüsselwort in den aktuellen Umschreibungen ist der Begriff „angemessen“. Wie aber kann ein verantwortliches Unternehmen bestimmen, was ein angemessener Lohn ist? Dem Gesetzeswortlaut zufolge sind die am Beschäftigungsort geltenden Maßstäbe anzulegen. Kann das Unternehmen keine am Beschäftigungsort anerkannte Berechnungsmethode feststellen, so das Ministerium, entscheidet es sich nach eigenem Dafürhalten für eine der etablierten Methoden, z. B. für die Anker-Methode. Das noch nicht endgültig verabschiedete europäische Lieferkettengesetz geht in seiner Formulierung weiter und spricht von einem „angemessenen existenzsichernden Lohn“.
Und We Care? Bei diesem Nachhaltigkeits-Management-Standard für die Bio-Branche sind die Bio-Wurzeln schon in den Definitionen der Kernbegriffe zu erkennen. Im Glossar des Zertifizierungsstandards heißt es: „Das Prinzip der Fairness zählt zu den grundlegenden Prinzipien von We Care.“ Im Zusammenhang mit den Entwicklungsmöglichkeiten aller Beteiligten greift der Standard die Begriffe „existenzsichernde Honorierung“ und „angemessene Preise“ auf. Also auch hier der Terminus „angemessen“. Im letztendlich verbindlichen Handlungsfeld Lieferkettenmanagement legt We Carebesonderen Wert auf Vertragsgestaltung und faire Partnerschaften mit den Lieferantenunternehmen. Axel Wirz, We-Care-Koordinator beim FiBL, unterstreicht: „Bio-Unternehmen arbeiten häufig direkt mit Lieferantenunternehmen vor Ort. Deswegen wollen wir diese Lieferanten in ihrer nachhaltigen Entwicklung stützen, damit auch die dort Beschäftigten angemessen entlohnt werden können.“ Im Standard heißt es u. a.: „Das Unternehmen legt Kriterien fest, gemäß denen es für eine faire, Lieferanten Entwicklung ermöglichende Preisgestaltung sorgen will“, und „Das Unternehmen prüft in regelmäßigen Abständen, ob seine für die Rohwaren gezahlten Preise den jeweils herrschenden wirtschaftlichen Gegebenheiten in fairer Weise entsprechen.“ In Hinblick auf die Beschäftigten selbst steht unter dem Kriterium 3.2: „Das Unternehmen legt mindestens für die Beschaffung von Rohwaren aus Risikoherkünften verbindliche Nachhaltigkeitsgrundsätze fest. Die Grundsätze umfassen mindestens die folgenden Themen: (…) faire Bezahlung, mindestens gemäß dem gesetzlichen Mindestlohn des jeweiligen Landes.“
Fazit: Die Diskussion, ob und wie existenzsichernde Löhne, Einkommen und Preise gewährleistet werden können, ist aus der fachlichen Nische heraus- und über das LkSG bei den Unternehmen angekommen. Der Fokus alleine auf Mindestlöhne greift zu kurz, es müssen für das jeweilige Land und die spezifische Situation vor Ort noch zusätzliche Parameter hinzugezogen werden. Gleichzeitig gilt es zu klären, welche Auswirkungen höhere Preise oder Löhne auf den jeweiligen Markt hätten, damit die Menschen vor Ort tatsächlich positive Veränderungen ihrer Lebensumstände spüren und keine ungewollten Bumerangeffekte, zum Beispiel durch das Wegbrechen von Märkten aufgrund der höheren Kosten. We Care, vom Selbstverständnis her ein sich ständig weiterentwickelnder Standard, betrachtet sowohl den Lieferanten selbst als auch die vom Lieferanten entlohnten Menschen, damit angemessene Preise, Löhne und Einkommen für das gesamte System gezahlt werden.