Ange­messene Existenz

13. März 2023

Min­destlohn, ange­messene oder exis­tenz­si­chernde Löhne und Ein­kommen. Durch das Lie­fer­ket­ten­gesetz ist Bewegung in die Frage gekommen, wie Ent­lohnung in der Lie­fer­kette defi­niert werden sollte. Ein Über­blick.  

In Deutschland gilt erst seit 2015 ein gesetz­licher Min­destlohn. Vor allem für gering qua­li­fi­zierte Arbei­tende bedeutet dieses ver­gleichs­weise junge Gesetz einen Mei­len­stein, wenn auch kein Garant für eine sichere Lebens­grundlage. Die große Masse der Beschäf­tigten dagegen ist schon seit Gründung der Bun­des­re­publik über die Tarif­ge­setz­gebung grund­sätzlich gut abge­si­chert. Anders sieht es in vielen Ländern des Glo­balen Südens, dem Ursprung vieler Bio-Roh­waren, aus. Ein soziales Netz wie in Deutschland gibt es kaum, dem Min­destlohn kommt dort somit eine hohe Bedeutung zu. Zwar ver­fügen nach Angaben der Inter­na­tio­nalen Arbeits­or­ga­ni­sation ILO über 100 Nationen weltweit über einen Min­destlohn, doch Min­destlohn heißt eben nicht Exis­tenz­si­cherheit (die ILO hält bis heute an ihrem seit 1972 gül­tigen Über­ein­kommen zum Min­destlohn-Grundsatz fest). Jeder Staat ent­scheidet indi­vi­duell über die Höhe des Min­dest­lohns. Ob damit die all­ge­meinen Lebens­hal­tungs­kosten getragen werden können, steht auf einem anderen Papier. Auch können gerade in Staaten mit hohem Kor­rup­ti­ons­niveau Min­dest­lohn­zah­lungen leicht unter­laufen werden.

Wie geht die Bio-Branche mit dem Thema um? Auf das Thema Bezahlung ange­sprochen, ver­weisen viele Akteure nach wie vor auf das Stichwort Fairness, einem der Grund­prin­zipien des öko­lo­gi­schen Landbaus. Faire Bezahlung für Beschäf­tigte in den Ursprungs­ländern bedeutete jah­relang die Ori­en­tierung am lokalen Min­destlohn. Dieser Ansatz funk­tio­niert teil­weise, teil­weise eben auch nicht. Fair­trade Deutschland unter­streicht, dass der Fair­trade-Min­dest­preis noch kein exis­tenz­si­cherndes Ein­kommen garan­tiere. Spä­testens seit der breit geführten Dis­kussion um das Lie­fer­ket­ten­sorg­falts­pflich­ten­gesetz (LkSG) zeigt sich, dass staat­liche Min­dest­löhne und ‑preise nicht zwingend ein exis­tenz­si­cherndes Aus­kommen bedeuten. Was aber heißt exis­tenz­si­chernd? Es gibt eine Vielzahl an Defi­ni­tionen. Die Living Wage Coalition, ein unab­hän­giges inter­na­tio­nalen Netzwerk von Orga­ni­sa­tionen rund um Sozi­al­stan­dards, beschreibt eine exis­tenz­si­chernde Ver­gütung dann als gegeben, wenn ein „ange­mes­sener Lebens­standard für die arbei­tende Person und deren Ange­hörige gewähr­leistet ist“. Dazu gehören Nahrung, Wasser, Unter­kunft, Bildung, medi­zi­nische Ver­sorgung, Transport, Bekleidung und andere Grund­be­dürf­nisse, ein­schließlich Vor­keh­rungen für uner­wartete Ereig­nisse. Diesem Ansatz liegt ein Modell der Sozio­logen Richard und Martha Anker zugrunde, das exis­tenz­si­chernde Löhne und Ein­kommen indi­vi­duell nach den lokalen Gege­ben­heiten berechnet, die Men­schen und deren Orga­ni­sa­tionen vor Ort ein­be­zieht und roh­stoff­spe­zi­fische Berech­nungen ermög­licht. Das Anker Research Institute zählt zu den Gründern der Living Wage Coalition. In Studien zu 40 Ländern hat die Living Wage Coalition fest­ge­stellt, dass die dor­tigen gesetzlich fixierten Min­dest­löhne in aller Regel kein exis­tenz­si­cherndes Aus­kommen ermög­lichen.

Wie geht der Gesetz­geber auf diese Per­spektive der Dis­kussion ein? Das LkSG erwartet die Zahlung „ange­mes­sener Löhne“. Nach Inter­pre­tation des Bun­des­mi­nis­te­riums für Arbeit und Soziales, es hat das LkSG ein­ge­bracht, genüge der lokale gesetz­liche Min­destlohn nur in der Regel und sei nicht in jedem Fall ange­messen. Der ange­messene Lohn, so das Minis­terium, liege aber auch nicht zwingend über dem gesetz­lichen Min­destlohn. Das Schlüs­selwort in den aktu­ellen Umschrei­bungen ist der Begriff „ange­messen“. Wie aber kann ein ver­ant­wort­liches Unter­nehmen bestimmen, was ein ange­mes­sener Lohn ist? Dem Geset­zes­wortlaut zufolge sind die am Beschäf­ti­gungsort gel­tenden Maß­stäbe anzu­legen. Kann das Unter­nehmen keine am Beschäf­ti­gungsort aner­kannte Berech­nungs­me­thode fest­stellen, so das Minis­terium, ent­scheidet es sich nach eigenem Dafür­halten für eine der eta­blierten Methoden, z. B. für die Anker-Methode. Das noch nicht end­gültig ver­ab­schiedete euro­päische Lie­fer­ket­ten­gesetz geht in seiner For­mu­lierung weiter und spricht von einem „ange­mes­senen exis­tenz­si­chernden Lohn“.

Und We Care? Bei diesem Nach­hal­tig­keits-Management-Standard für die Bio-Branche sind die Bio-Wurzeln schon in den Defi­ni­tionen der Kern­be­griffe zu erkennen. Im Glossar des Zer­ti­fi­zie­rungs­stan­dards heißt es: „Das Prinzip der Fairness zählt zu den grund­le­genden Prin­zipien von We Care.“ Im Zusam­menhang mit den Ent­wick­lungs­mög­lich­keiten aller Betei­ligten greift der Standard die Begriffe „exis­tenz­si­chernde Hono­rierung“ und „ange­messene Preise“ auf. Also auch hier der Ter­minus „ange­messen“. Im letzt­endlich ver­bind­lichen Hand­lungsfeld Lie­fer­ket­ten­ma­nagement legt We Carebeson­deren Wert auf Ver­trags­ge­staltung und faire Part­ner­schaften mit den Lie­fe­ran­ten­un­ter­nehmen. Axel Wirz, We-Care-Koor­di­nator beim FiBL, unter­streicht: „Bio-Unter­nehmen arbeiten häufig direkt mit Lie­fe­ran­ten­un­ter­nehmen vor Ort. Des­wegen wollen wir diese Lie­fe­ranten in ihrer nach­hal­tigen Ent­wicklung stützen, damit auch die dort Beschäf­tigten ange­messen ent­lohnt werden können.“ Im Standard heißt es u. a.: „Das Unter­nehmen legt Kri­terien fest, gemäß denen es für eine faire, Lie­fe­ranten Ent­wicklung ermög­li­chende Preis­ge­staltung sorgen will“, und „Das Unter­nehmen prüft in regel­mä­ßigen Abständen, ob seine für die Roh­waren gezahlten Preise den jeweils herr­schenden wirt­schaft­lichen Gege­ben­heiten in fairer Weise ent­sprechen.“ In Hin­blick auf die Beschäf­tigten selbst steht unter dem Kri­terium 3.2: „Das Unter­nehmen legt min­destens für die Beschaffung von Roh­waren aus Risikoherkünften ver­bind­liche Nach­hal­tig­keits­grund­sätze fest. Die Grund­sätze umfassen min­destens die fol­genden Themen: (…) faire Bezahlung, min­destens gemäß dem gesetz­lichen Min­destlohn des jewei­ligen Landes.“

Fazit: Die Dis­kussion, ob und wie exis­tenz­si­chernde Löhne, Ein­kommen und Preise gewähr­leistet werden können, ist aus der fach­lichen Nische heraus- und über das LkSG bei den Unter­nehmen ange­kommen. Der Fokus alleine auf Min­dest­löhne greift zu kurz, es müssen für das jeweilige Land und die spe­zi­fische Situation vor Ort noch zusätz­liche Para­meter hin­zu­ge­zogen werden. Gleich­zeitig gilt es zu klären, welche Aus­wir­kungen höhere Preise oder Löhne auf den jewei­ligen Markt hätten, damit die Men­schen vor Ort tat­sächlich positive Ver­än­de­rungen ihrer Lebens­um­stände spüren und keine unge­wollten Bume­rang­ef­fekte, zum Bei­spiel durch das Weg­brechen von Märkten auf­grund der höheren Kosten. We Care, vom Selbst­ver­ständnis her ein sich ständig wei­ter­ent­wi­ckelnder Standard, betrachtet sowohl den Lie­fe­ranten selbst als auch die vom Lie­fe­ranten ent­lohnten Men­schen, damit ange­messene Preise, Löhne und Ein­kommen für das gesamte System gezahlt werden.